Wenn man 1985 in Japan gewesen wäre und den Fernseher eingeschaltet hätte, hätte man vielleicht einen merkwürdigen Werbespots für Gesichtstücher der Marke Kleenex gesehen, in dem eine Frau in Weiß und ein kindergroßer, schelmischer Einhorn-Oger mit roter Haut, gespielt von einem Kinderdarsteller, zu sehen sind. In dem Werbespot sitzen sie auf einem Strohbett mit einer Schachtel Taschentücher dazwischen, während der kleine Oger mit verschränkten Armen und einem undurchschaubaren Gesichtsausdruck dasitzt, die Frau sich vorbeugt, ein Taschentuch herauszieht und es dann in die Luft schweben lässt. Während der gesamten 30-sekündigen Laufzeit wird kein einziges Wort gesprochen, und das Ganze wird von der unheimlichen, melancholischen Melodie „It’s a Fine Day“ von Edward Barton und Jane überlagert. Der Werbespot ist ziemlich kurz, und das erste, was einem außer der schieren surrealen Bizarrheit auffällt, ist, wie unglaublich gruselig das Ganze ist, und wie beunruhigend das Ganze wirkt. Vielleicht gerade deshalb ist dieser einfache Werbespot in Japan zu einer unglaublich allgegenwärtigen, beängstigenden urbanen Legende geworden, umgeben von allerlei finsteren Gerüchten und gespenstischen Geschichten…
Der Werbespot wurde etwa zur gleichen Zeit auch in einer andere Version herausgebracht, in der der Oger enthusiastisch Taschentücher aus der Schachtel reißt. Diese Version ist nicht weniger unheimlich, und beide Versionen wurden nur wenige Male ausgestrahlt, angeblich weil es zahlreiche Beschwerden gab, die gleich nach der Ausstrahlung eintrafen. Der Überlieferung zufolge war die unheimliche Atmosphäre des Ganzen für viele Zuschauer wirklich beunruhigend, und obendrein wurde behauptet, dass der Song nicht „It’s a Fine Day“ war, sondern eher ein deutschsprachiges Lied, das für jeden, der Deutsch verstehen konnte, unheimlich den Text „Stirb, stirb, jeder ist verflucht und wird getötet“ enthielt. Nach einer Flut von Beschwerden wurde der Spot nicht mehr gesendet, aber das reichte nicht aus, um die zunehmend bizarren und makaberen Geschichten zu stoppen, die sich darum bildeten…
Zu den ersten Geschichten, die sich um den Werbespot ranken, gehören die über die Besetzung und die Crew des Spots. Die Besetzung starb angeblich einer nach dem anderen in einer Reihe unglücklicher, verrückter Unfälle und plötzlicher Krankheitsschübe, darunter auch das Kind, das den Oger spielte, das anscheinend plötzlich an Organversagen starb. Die Produzenten, der Regisseur, die Kameramänner… niemand wurde laut Überlieferung verschont, alle starben oder litten an irgendeinem Unglück. Auch zur Schauspielerin gibt es verschiedene Informationen: Sie wurde in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, beging Selbstmord oder brachte ein deformiertes, dämonisch aussehendes Baby zur Welt. Es wurde auch behauptet, dass viele der Personen, die den Werbespot gesehen hatten, verrückt geworden seien und entweder Selbstmord begangen hätten, den Verstand verloren hätten oder spurlos verschwunden seien. Die vielleicht beste dieser Geschichten tauchte jedoch erst auf, nachdem der Werbespot Jahrzehnte später wiederentdeckt wurde:
Im Jahr 2006 wurde der alte japanische Kleenex-Spot einer neuen Generation von Zuschauern präsentiert, als er auf YouTube erschien. Es gab sofort allerlei seltsame Berichte. Die typischen Geschichten von Menschen, die verrückt wurden, Anfälle bekamen oder das Bewusstsein verloren, während sie ihn sahen, aber es gab auch noch ominösere Behauptungen, dass einige Leute tot umfielen, während sie ihn sahen. Eine weitere Merkwürdigkeit, die von einigen Zuschauern bemerkt wurde, war, dass der Werbespot um Mitternacht oder nach der Aufnahme und Wiedergabe gesehen wird und sich dann bestimmte Details ändern. In einigen Fällen wird der rote Oger blau, oder die Farbe des Kleides der Frau ändert sich. In extremeren Fällen verändert sich die Musik angeblich oder es kommt zu erschreckenden Formen und Gesichtern, die über den Bildschirm flimmern, sowie zu zahlreichen anderen Verzerrungen und Anomalien, und manchmal fällt scheinbar die Stromversorgung der gesamten Wohnung aus. Einige Leute haben darauf bestanden, dass das Video unterschwellige Botschaften enthält und dass sie sich gezwungen fühlen, bestimmte Handlungen auszuführen oder unerklärliche Verhaltensänderungen zu zeigen, wenn sie sich das Video ansehen.
Es ist alles ziemlich beängstigend und scheint wie aus einem Horrorfilm zu stammen, aber es ist wahrscheinlich doch nur eine urbane Legende des Internet-Zeitalters. Zum einen scheint es nie eine Version mit einem deutschen Song gegeben zu haben, der jemals veröffentlicht wurde, obwohl man darauf besteht, dass er ursprünglich auf diese Weise veröffentlicht wurde. Es gibt auch keine Möglichkeit zu überprüfen, ob tatsächlich jemand von der Crew wie beschrieben gestorben ist oder gelitten hat. Auch die Schauspielerin, die Keiko Matsuzaka heißt, ist am Leben und noch heute Schauspielerin. Sie war nie in einer psychiatrischen Anstalt. Japanische Fernsehspots sind im Allgemeinen schon recht merkwürdig für westliches Empfinden, aber gerade dieser scheint sich wirklich einen Namen gemacht zu haben. Ist das alles eine urbane Legende, oder steckt da noch mehr dahinter? Wie dem auch sei, der Fall des verfluchten japanischen Kleenex-Werbespots macht weiterhin die Runde…
Foto: Kleenex